Kyllburgs Villa war eines der schönsten Zimmer im Internat, eigentlich eine Art Penthouse auf dem Dach der Schule. Mit Fensterreihen an zwei Seiten, eine Seite zeigte auf die Terrasse auf dem Schuldach, auf der wir uns im Sommer sonnten oder in warmen Nächten draußen unter dem Sternenhimmel übernachteten. Die andere Fensterfront ließ in den Wald des Breitenberges gucken, an dem unser Internat gelegen ist. Es gab zwei solcher Zimmer, das andere bewohnte Edwin, der allerdings nie Poker spielte.
Kyllburg selber war ein kleiner, stämmiger Athlet, der ein wenig darunter litt, dass er der Neffe unserer Werklehrerin war. Obwohl niemand von uns sich jemals darüber lustig gemacht hätte - außer Didi, der dafür von Edwin einen aufs Maul bekam (aber das ist eine andere Geschichte). Manfred und seine Tante genossen ein gewisses Ansehen unter uns, da machte man sich nicht lustig. Manchmal sah man ihn Sonntags zum Mittagessen bei seiner Tante einkehren, die schon seit Ewigkeiten eine Wohnung im Verwaltungsgebäude hatte. Ansonsten versuchte Kyllburg die Verbindung immer zu vermeiden. Dabei wäre das nicht nötig gewesen, Kyllburg war ein feiner Kerl mit obendrein guten Schulnoten, der sicher kein Vitamin B gebraucht hätte um auf das NIG zu kommen. Einigen Jüngeren Schülern gab er mit einer bewundernswerten Engelsgeduld Nachhilfe und hat so sicher mancher Biografie zum besseren verholfen.
Jedenfalls trafen wir uns immer zum Pokern in Manfreds Zimmer, Kyllburgs Villa eben. Obwohl ich erst Obertertianer war, durfte ich an der Runde teilnehmen. Das hatte mehrere Gründe und etwas mit der internen Hackordnung zu tun. Erstens war ich als Klassensprecher in der Schülerverwaltung und hatte da schon viel mit den Schülern der oberen Klasse zu tun. Aber das war der nebensächlichste Grund.
Wichtiger war schon eher, dass ich eine Stadtschülerin als Freundin hatte. Wer ein Mädchen aus dem Internat hatte, war schon höher angesehen, noch höher im Ansehen stand aber eine Liaison mit einer Externen. Wichtigster Grund aber war sicherlich, dass ich über die notwendige Barschaft verfügte, weil ich nämlich schon ziemlich früh regelmäßig in den Ferien im Krankenhaus arbeitete. Ich war also nicht nur auf mein bescheidenes Taschengeld angewiesen. Wir, das war übrigens meist immer eine Runde um einen festen Kern: Martin Richter (Obersekunda), grauenhaft dünn (als jüngerer Schüler hatten die anderen ihn angeblich immer "Biafra" genannt), langhaariger Künstlertyp, der immer wichtig mit einer Gitarre herumlief, sehr guter opinion leader in Sachen Musikgeschmack, Martin brachte mir den frühen Zappa nahe, verbrachte seine Zeit hauptsächlich an drei Orten: In der Raucherecke, wo er mit seiner Freundin Ilonka knutschte, im Jugendzentrum, wo er mit Ilonka meist in einer Ecke lag, ihr unter dem T-Shirt rumnestelte und knutschte, oder eben in unserer Pokerrunde. Wenn Mädchen nicht im Jungenheim verboten gewesen wäre, dann hätte Ilonka wahrscheinlich auch beim Pokern auf seinem Sch0ß gesessen, Die beiden hatten eine sehr symbiotische Beziehung, die immerhin gut zwei Jahre hielt. Ich nehme mal an, dass Martin heute irgendwo als freischaffender Künstler lebt.
Fromms Bodtke (Frank, Obersekunda), unser intellektueller Anarchist, ständig gegen alles. Brillianter Schüler, las Bücher in Massen in kürzester Zeit quer. Als sein ursprünglich geplanter Einstieg in den internationalen Terrorismus nach der Schule nicht klappte, studierte er kurzerhand Wirtschaft und hatte natürlich die passende Begründung gleich parat: "Wenn ich die Kuh nicht schlachten kann, dann muss ich sie wenigstens melken." Fromms hat sein Talent wahrscheinlich versoffen oder verkifft, jedenfalls hat er heute in Braunschweig ein kleines Taxiunternehmen.
Kolodschimix (eigentlich Hans-Wilhelm ... und dann kam ein polnischer Name, den keiner von uns aussprechen konnte, geschweige denn schreiben) Tertia wie ich, hatte eine Freundin aus dem Internat und verfügte über eine ansehnliche Barschaft, die er aber ansonsten immer vertuschte, wir nahmen an, dass sie aus unsauberen Drogengeschäften stammte). Kolodschimix schaffte es immer, sich eine geheimnissvolle Aura zu geben. Es kursierten Gerüchte, dass er aus einer Drogenfamilie stamme, Brüder bei den Maoisten habe, die vom Bootleghandel lebten, war wahrscheinlich alles Quatsch, hervorragender Kartenspieler, nervig bei Kolodschimix war nur, dass er jede Viertelstunde rausrennen mußte, um eine von seinen selbstgedrehten Steppengraszigaretten zu rauchen.
Kolo spielte eine ganze Zeitlang in unserer Runde, bis er eines Nachts spurlos aus dem Internat verschwand. Zurück ließ er nur eine Batterie von Colaflaschen in seinem Schrank, gefüllt mit einer ekelhaft riechenden gelben Flüssigkeit, die sich genau als das erwies, woran wir alle dachten. Kolo mußte sowieso mehrmals in der Nacht aufstehen, um eine zu rauchen, da ihm dann wahrscheinlich der Weg zur Toilette zu weit war, benutzte er die Colaflaschen. Wir haben nie mehr von ihm gehört. So geheimnisvoll, wie er sich immer zu geben versuchte, so geheimnisvoll war sein Abgang.
Naja und Kyllburg und ich. Andere Teilnehmer kamen und gingen, drangen aber nie zum festen Kern vor.
So ein Abend oder Nachmittag verlief immer ähnlich: Kyllburg legte eine seiner drei Platten, die er besaß, auf sein Schallplattennachschneidegerät. Als da waren Rory Gallagher live ("stop messin with the kid"), Colosseum live ("in lost angeless...") oder 666 von Aphrodite's Child, einer griechischen Popgruppe, deren fetter Sänger Demis Roussos in den frühen 70er Jahren mit Schmusesongs einigen Erfolg hatte. Kolodschimix blieb immer nur dabei, wenn er nicht viel verlor, ansonsten seilte er sich unter einem Vorwand ab. Martin hielt am längsten aus, bis er sich unter dem Vorwand, er müsse jetzt dringend wixen gehen, verabschiedete. Darauf entspann sich immer ein kurzer Streit zwischen Fromms Bodtke und ihm, weil Fromms behauptete, Martin könne doch noch gar nicht:"Ich spreche dir jegliche Potenz ab."(das war eben Fromms' vornehme Ausdrucksweise). Wie er denn darauf käme. "Das hat Ilonka meiner Schwester erzählt", behauptete Frank dann. Fromms Bodtke hatte nämlich zwei Schwestern im Internat. Mit dieser angeblichen Aussage seiner Schwester schindete er natürlich einigen Eindruck. Daraufhin wurde Martin immer stocksauer und bot seinem Widersacher an, er könne ja mitkommen und sich überzeugen. Ein Angebot, dass Frank aber dann doch lieber ablehnte.
"Muss der Idiot ständig erzählen, dass er onanieren geht, als ob uns das interessieren würde..." ließ Fromms sich dann aus, wenn Martin weg war.
Meist erfuhr unsere Runde eine kleine Unterbrechung, wenn unser aller Mathe- und Physiklehrer JK vorbeikam und uns mit Geschichtchen nervte, während er dabei genüßlich und geräuschvoll an einer Flasche Bier nuckelte. Für uns war nämlich Alkoholverbot im Internat, was er uns mit seinem Handeln dann, höchst beabsichtigt, klar machte. Wenn JK keinen Dienst hatte, sah er darüber hinweg, dass wir bis weit über die Zubettgehgrenzen spielten. Jedesmal kam mit einem Seitenblick auf unsere Plastikchips die Frage: "Ihr spielt doch wohl nicht um Geld?"
Die Kyllburg mit der stereotypen Antwort: "Aber nicht doch, wo denken Sie hin?"
beantwortete. JK piesackte uns dann immer noch eine Weile: mich mit meinem wenig fortgeschrittenen Bartwuchs (er hatte sich den Spitznamen "Pfirsichbacke" für mich ausgedacht). Manfred mit seiner Heimat ("wo gleich lag nochmal Killburch?"); Martin mit der Frage, ob er es denn nun schon mit Ilonka "getan" habe; Kolodschimix hielt er Vorträge über die Schädlichkeit des Rauchens und Fromms Bodtke hielt er vor, dass seine Schwester Martina so grottenschlecht in Physik sei, woran das läge?
Natürlich wußte JK, dass wir um Geld spielten, so lange wir uns aber anderweitig vernünftig verhielten, sah er darüber hinweg. Viel später erzählte er mir übrigens mal, dass er Martin und Ilonka in flagranti erwischt habe. "Und was haben Sie getan?" fragte ich mit Geifer in den Mundwinkeln. - "Die Tür leise zugemacht." So war er, wen er mochte, der konnte immer auf ihn zählen. Wehe dem, der sein Gegner war. Und dabei immer trotzdem diese Unberechenbarkeit.
Irgendwann am späten Abend verließ uns JK dann mit der Ausrede, er müsse noch Unterricht vorbereiten.
Eine andere Unterbrechung gab es immer meist dann, wenn auf der 666 ein Song lief, der das Unendlich-Zeichen (die auf dem Bauch liegende 8) zum Titel hatte. Der Song bestand aus einem rhytmisch ansteigenden, weiblichen Stöhnen. Dann holte Kyllburg immer eine Kiste unter seinem Bett hervor. Dieser ansonsten kreuznormale Typ hatte nämlich einen Tick: Er sammelte Damenslips.
Gebraucht mußten sie sein und am besten ungewaschen. Komischerweise nahmen die Mädchen an seiner Leidenschaft ziemlichen Anteil und versorgten ihn mit Objekten seiner Begier. Nur eine der begehrtesten weiblichen Wesen des Mädcheninternats, Doris, weigerte sich empört, seinen Bitten nachzugeben. Bis er eines Tages abends zu mir kam und mich mit leicht wahnsinnigem Leuchten in den Augen fragte: "Weißt du was ich hier habe?" Klar wußte ich es sofort, Doris hatte ihm änlässlich ihres Abiturs zum Abschied einen ihrer Slips geschenkt:
...Schwarz...
...mit Spitzen...
...getragen...
... ungewaschen...
Das war fast zu viel für Kyllburg. Jedenfalls zeigte er uns dann immer seine Beute und garnierte sie mit kleinen Geschichten, die wir allerdings alle für erfunden hielten, denn Manfred war ansonsten im Umgang mit Mädchen völlig hilflos und schüchtern. Wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass er auch nur eines seiner Lustobjekte an der lebendigen Frau berührt hatte. "Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was er mit seiner Wäschesammlung treibt, wenn wir nicht dabei
sind."pflegte Fromms Bodtke gerne zu sagen.
Zurück zum Spiel. Wirklich größere Summen gewonnen oder verloren haben nur Kyllburg und ich. Aber auch das hat sich im Laufe der Zeit dann immer wieder ausgeglichen. Wenn Fromms allerdings verlor, dann hob er immer an zu zetern und schimpfte, wie unmoralisch wir seien, Glückspiel sei verboten und er würde uns melden. Natürlich tat er das nie, das war halt seine Art, mit der Niederlage fertig zu werden.
Unsere Pokerrunden gingen oft bis in die frühen Morgenstunden. Und da wir nach Unmengen von Kannen Tee dann auch nicht mehr schlafen konnten, waren wir im Unterricht dann auch entsprechend präsent. Zusammenreißen mußten wir uns nur, wenn wir am nächsten Morgen bei Krolow Unterricht hatten. Der nahm uns nämlich gnadenlos ran. Andere Lehrer fragten immer nur: "Was ist denn los mit dir Thorsten, ist dir nicht gut?", "Frank, wo bleibt dein Elan?", "Manfred, was war gestern Nacht los?"
Aber natürlich schwiegen wir alle eisern. Wir konnten doch unsere Nächte in Kyllburgs Villa nicht in Gefahr bringen.
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