Neujahrsmorgen 2010… Dunkle Ränder liegen wie schmutzige Ringe um meine Augen, das Weiß ist zum Fürchten Gelb und ich war überzeugt davon, dass meine Leber mir zwischen den Knien hing. Nach zwei Aspirin und den wichtigsten Online-Zeitungen ist es wieder besser und ich gehe nach draußen ins Outernet. Das Outernet ist eingeschneit, ich muss mir erst den Weg freischaufeln. Unterm Schnee vor unserem Carport liegt eine Sense. Sie sieht aus wie die des Mainstreams. Wen mag er heimgesucht haben? Vielleicht Stefan und Nadine, die haben gerade ein Kind bekommen und jetzt sieht es so aus, als ob sie den Weg allen bürgerlich-irdischen gehen: Haus, Einbauküche, Kind, Ehe…
Damit mir im Outernet nicht langweilig wird klicke ich mit meinem neuen Nokia 151 Commander die Hyperlinks der Nachbarshäuser an. Leider sind die Informationen von den Eigentümern gesteuert und man erfährt nichts wirklich Neues. Die Grafikerin von nebenan hat ihre Preisliste hinterlegt, Detlev und Nicole weisen auf ihr neues Auto hin, das aber auch schon ein halbes Jahr alt ist. Das Ehepaar im Eckhaus hat Kinderfotos hinterlegt. Die neu eingezogenen Chinesen von der Ecke beschreiben akribisch ihr Berufsleben offen, damit auch niemand glaubt sie betrieben eine Restaurantkette, er ist Arzt an der MHH, sie Architektin bei der Messe AG. Das Lehrerehepaar von der 43 weist darauf hin, wann ihr Wassergarten eingeschaltet ist, die Angeber. Es ist still im Lister Blick, Neujahrsmorgen 11:15 Uhr, es schneit unaufhörlich weiter, die Flodders schreien sich an (die beiden sprechen spanisch, das hört sich immer so an als würden sie sich anschreien), von irgendwoher säuselt äthiopische Musik. Komisch, die Leute hören immer mehr Dritte-Welt-Avantgarde. Ich werfe einen Blick zum Telemax und plötzlich trifft mich die Erkenntnis: Es ist nicht irgendein neues Jahr, es ist der Aufbruch in ein neues Jahrzehnt. Im gleichen Moment sendet der Telemax einen feinen Blitz direkt in mein Gehirn. Die Informationen und Bilder strömen auf mich ein, wie ein Film läuft es in meinem Hirn ab. Es ist Neujahr 2020. Die Welt hat sich spürbar verändert, Europa ist das Altersheim der Welt, hat sich aber gut darin eingefunden. China und Indien sind die Führungsmächte der Welt, Russlands Bevölkerung ist wegen übermäßigem Alkoholkonsums um dreißig Prozent dezimiert und das Land praktisch handlungsunfähig, erst kürzlich wurde die Krim an die Engländer verkauft. Deutschland ist ein Vielparteienstaat, schwer regierbar, weil ständig die Koalitionen wechseln. Dafür hat das Volk mehr Macht, Volksabstimmungen wurden vor fünf Jahren eingeführt, woraufhin Kernkraftwerke und das erst 2011 beschlossene Tempolimit eliminiert wurden. Per Volksdekret wurde Deutschland auch Einwanderungsland, was unter anderem den drastischen Zuzug von Osteuropäern eindämmte. Mittlerweile allerdings gibt es Bürgerinitiativen, die vox populi hassen, europaweit die Abschaffung des Plebiszits fordern und nach dem „guten Diktator“ suchen. Viele Spitzenpositionen sind von „Gastarbeitern“ (wie sie jetzt wieder heißen) aus China und Indien besetzt, weil durch den demografischen Wandel und die katastrophale Bildungspolitik in den frühen 2000ern deutsche Führungskräfte und Spezialisten Mangelware sind.
Bettina und ich sind in unserem Haus in das Zwischengeschoss gezogen und haben Lucie das Obergeschoss überlassen, sie hat per Treppe einen eigenen Zugang über den Garten. Unser Haus wird mit Erdwärme geheizt, die Solarkollektoren auf dem Dach versorgen uns mit Strom, der von einer neuartigen Batterie, die auf unserem Gartenhaus installiert ist gespeichert wird. Es gibt Tage, da verkaufen wir überschüssigen Strom an der Shanghaier Börse. „Öffentliche“ Kraftwerke sorgen eigentlich fast nur noch dafür, dass die Elektroautos der Nation, die wir für unsere Bewegung im Outernet brauchen, mit Kraftstoff versorgt werden. Eines davon, ein Skoda Fabia der sechsten Generation steht vor unserem Haus, es ist ein Hybrid-Modell, größtenteils gleitet er fast reibungsfrei auf Magnetfeldern, wo diese noch nicht funktionieren nutzt er Analog-Räder. Unsere Informationen holen wir mittlerweile ausschließlich aus dem Internet, dort findet auch ein Großteil der sozialen Kontakte statt. Die verbliebenen großen überregionalen Zeitungen erscheinen nur noch drei Mal in der Woche und dienen der intellektuellen Vertiefung. Ein i-Pod der zweiundzwanzigsten Generation versorgt uns mit Musik, Fernsehbildern, er speichert alle unsere wichtigen Dokumente und natürlich unser privates Fotoarchiv. Neuerdings kommt auch Literatur dazu weil endlich das E-Book aus allen seinen Kinderkrankheiten herausgewachsen ist.
Bei Eins A Kommunikation haben wir vor wenigen Jahren einen Neurowissenschaftler eingestellt. Dank seiner funktionellen Magnetresonanzanalysetomografie, der Magnettoenenzephaleografie und der State-Topographie kann er immer genau sagen, welche PR-Konzepte wirklich funktionieren. Und warum. Da ich mich selbst um die Vermarktung meines ersten Romans kümmern muss, arbeite ich nur noch drei Tage für die Agentur und kümmere mich rein ums operative Geschäft und das Austreten von temporär auftretenden Flächenbränden. Wir haben das Haus in der Kramerstrasse 13 mittlerweile gekauft und denken über die Anmietung von weiteren Räumlichkeiten nach. Außerdem haben wir uns bei Eins A auf ein weiteres Feld spezialisiert. Wir bieten Filtering für verschiedenste Lebenssituationen an. Es geht simpel gesagt um eine Einschränkung der Informationsflut, auf allen Ebenen, sowohl im Inter- als auch im Outernet. Der Bedarf ist groß, vor allem bei den wenigen verbliebenen Managern, die noch Vollzeit arbeiten. Spezialist hier ist Jens mit einem Team von ihm unterstellten Mutanten, der Geschäftsbereich boomt.
Der Edeka-Markt am Rande des Lister Blickes musste einem dieser neuen Supermärkte „Reife 70-plus“ weichen. Man geht mit seinem Rollator durch den Laden, klickt mit seinem Nokia 2500 die Waren an und sie werden dann mit umfassenden Produktinformationen direkt nach Hause geliefert.
Ich selbst halte nach wie vor mein Idealgewicht von 88 Kilo, esse nur noch Functional Bio-Food: Rindfleisch aus dem Chiemgau mit einem dreimal höheren Anteil an Omega-3-Fettsäuren, die gegen Arterienverkalkung helfen, Gender-Food für Männer 60plus, und nehme ausschließlich Rama-Bio als Brotaufstrich. Ich trage keine Brille mehr, weil mir neue Netzhäute mit integrierten Infrarotkameras implantiert wurden, ich kann jetzt im Dunkeln sehen – wenn ich will. Unter der Tätowierung an meiner rechten Lende befindet sich jetzt ein Depot, das sich auf Signal meines primitiven Kleinhirnes oder manuellen Druckes seitens meiner Gattin aktiviert und entsprechende Substanzen (früher hätte man Viagra gesagt) freisetzt.
„Don’t eat the yellow snow“, mit diesem Zappa-Song-Zitat wache ich auf. Ich liege mitten auf der Straße und bin fast zugeschneit. Mir ist kalt. Ich schaue auf meinen Kommunikator, gottlob, es ist der 1. Januar 2010. Schlagartig wird mir klar: Ich brauche einen Stütz-Vernatsch…
Wir haben es in der Hand!
haha, genau das gleiche hab ich mir beim Lesen auch gedacht ;-)
und nicht vergesen: do not eat the yellow snow!
Kommentiert von: Flüge Australien | Dienstag, 12. Januar 2010 um 16:44 Uhr
"Outernet", sehr hübsch!
Kommentiert von: kieke | Freitag, 08. Januar 2010 um 13:12 Uhr