Als ich neulich Abend nochmal zur Biotonne ging, da kam er aus Richtung Gudrun und Andi: eine hagere, alterslose Gestalt im schwarzen Mantel, eher ein Schädel als ein Kopf, Kälte und Modergeruch verströmend, eine Sanduhr in der linken Hand und - tatsächlich! - eine lange Sense in der Rechten. Die Sense ließ er auf dem Boden schleifen, es gab ein Geräusch, als ob man mit langen Fingernägeln auf einer Tafel kratzt.
Nein, es war nicht der Tod, es war sein kleiner Bruder, der Mainstream: Die Mitte der Gesellschaft, der Durchschnitt, Otto Normalzuschauer. Das Gegenteil von Freiheit, Abenteuer, Überraschung, Kreativität. Das Ende des wirklichen Lebens also. Der Mainstream grinste mich mit seinen weißen Zähnen an und deutete mit seinen knochigen Finger auf unser Haus:
„Na mein Lieber, trennen wir brav den Müll? Nett das , mein Lieber: Reihenhaus im Lister Blick, Vollholzküche, Dachterrasse, Carport, Gartenhäuschen, Terrassendecks aus Tropenholz.“
Ich wurde blaß. Der Mainstream war schon zweimal bei mir gewesen und wollte mich holen. Beide Male konnte ich ihn geschickt davon überzeugen, dass ich denn doch noch nicht zum Mainstream gehöre. Wie sollte ich das jetzt wieder schaffen?
„Habe gehört, du willst dir ein neues Auto kaufen?“
Woher wusste der das schon wieder?
„Ich beobachte dich, wie du beim Porschehändler durch die Scheiben peilst, oder neulich bei Audi in Wülfel“
„Naja, das mit dem Porsche dauert noch etwas, erstmal müssen die Kinder groß werden. Träume haben wir ja alle, du weißt schon.“
„Jaja ist okay, aber Junge: Audi, das ist schon sehr bedenklich.“ „Wieso?“ „Das müsstest du doch wissen, TNS Infratest hat gerade eine Umfrage gemacht. VW, Audi und Mercedes sind die beliebtesten Automarken der Deutschen, der Audi A4 ist das beliebteste Auto. Damit bist du so richtig Mainstream.“
„Naja, noch ist ja nichts bestellt“, versuchte ich abzulenken.
„Okay mein Lieber, ich beobachte deinen weiteren Niedergang. Denk immer dran, wenn du einen kalten Hauch im Nacken spürst, dann stehe ich hinter dir. Wenn du in der Wahlkabine Wulff wählst, wenn du Klimaabgabe für die Canaren zahlst, wenn du dir deine Augeneckenfalten weglasern lässt…“
Er schwang seine Sense und ich dachte mein letztes Stündlein sei geschlagen. Doch dann war er einfach verschwunden und hinterließ einen merkwürdigen Staub, der im kalten Schimmer unserer Energiesparaussenleuchte zu Boden rieselte.
Mehr vom Mainstream:
http://nordlichtblog.blogs.com/hirnstromblog/2006/11/wenn_der_mainst.html
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