Ja, ich gebe es zu, ich habe Angst vorm Zahnarzt. Eins ist klar: Es gibt Schlimmeres im Leben: Liebeskummer, Gallensteine, "Germanys next Topmodel " und Katja Ebsteins Eigenurin. Alle diese Dinge sollte ich aber erst viel später kennenlernen.
Ich glaube, das Trauma entstand bei meinem ersten Zahnarztbesuch. Ich war wohl fünf oder sechs Jahre alt und hatte schreckliche Schmerzen an einem Milchbackenzahn. Im Vorhinein hatte ich von der mitfühlenden Verwandschaft zahlreiche Horrorgeschichten über Zahnärzte gehört, die mir meine Nächte raubten. Der Zahnarzt hieß Engelmann, was mir eigentlich Hoffnung machte. Ich sass mit meiner Mutter im Wartezimmer und hörte das entsetzliche Schreien des etwa zehnjährigen Jungen, der vor mir dran war. Mir schlotterten die Knie, ich bekam Schweißausbrüche und mein Magen drehte sich um: „Eigentlich tut es gar nicht mehr weh“, meinte ich zu meiner Mutter. Es nützte nichts, ich kam dran. Der Zahnarzt, der wie eine havarierte Großpackung Billigparfürms roch, inspizierte mit Kratzer und Spiegel meine Mundhöhle, ein blubbernder und sabbernder Schlauch hing an meiner Unterlippe und schlabberte meinen Angstspeichel weg. Engelmann legte seine Gerätschaften beiseite, und mit einem angespitzten "Na, mal schauen, wie locker er schon ist …" nahm er meinen Backenzahn zwischen Daumen und Zeigefinger, um ein bisschen daran zu ruckeln. Es tat höllisch weh, aber der Zahn war denn doch zu fest. „Narkose“, meinte Engelmacher und zog eine riesige Glaskolbenspritze auf. Die jagte er mir direkt unter die Zahnreihe und in die Wange. Tränen liefen mir salzig übers Kinn. „Tapfer sein Junge!“, sagte der Schlachter und meine Mutter hielt meine zitternde Hand. Das nächste, was ich spürte war, wie er meinen Kopf mit der anderen Hand in die Kopfstütze presste und mir eine riesige Zange in den Mund polkte (es gab damals noch keine Instrumente für Kinder), es krachte ganz schrecklich in meinem Kopf und dann zog der Peiniger eine blutige Hand aus meinem Mund. Einfach so, ohne weitere Warnung, hatte er den Zahn mit einem wuchtigen Ruck gezogen. Ich war so schockiert, dass ich ihn bestimmt eine Minute lang nur mit großen Augen anstarrte. Ich konnte nicht glauben, was da gerade passiert war: Dieser Mörder hatte mein Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt, war sich aber keinerlei Schuld bewusst, grinste mich feist an und hielt den Zahn triumphierend in die Höhe: "Da isser ja! Bist aber blass, Junge“.
Ich war nie wieder bei dem Sadisten und verweigerte fortan jegliche professionelle Zahnkontrolle. Bis der Schulzahnarzt kam und mich überwies. Einen Zahnarzt trat ich während der Behandlung in die Magengrube, er verpasste mir eine Kopfnuss und meine Mutter drohte ihm mit einer Anzeige. Bei dem anderen kotzte ich vor Angst über die Instrumentenplatte.Wir wurden gebeten, demnächst doch eine andere Praxis aufzusuchen.
Mit elf Jahren flüchtete ich mich schließlich aus Angst vor Bohrer und Zange in den Medikamentenmissbrauch. Ich hatte mehrere durch Süßigkeiten ruinierte Backenzähne, und immer wenn diese anfingen, weh zu tun, knallte ich mir heimlich Gelonida rein. Meine Mutter war Krankenschwester und brachte die Dinger in Mengen nach Hause mit. Bei schwereren Aua-Attacken schluckte ich das Zeug so lange, bis sich der Zahn wieder beruhigt hatte, zur Not eine ganze Woche. Das ging so lange gut, bis meine Drogen im Internat bei einer Razzia aufflogen. Da Gelonida ein starkes Schmerzmittel war, halfen normale Aspirin aus der Apotheke nicht mehr und ich musste doch wieder zum Zahnarzt.
Heute habe ich ein super saniertes Gebiss mit Goldkronen und –inletts, das mir und meiner Zahnärztin viel Freude macht, sämtliches Amalgam aus den 70-ern ist entsorgt. Wegen einer extremen Narkoseüberempfindlichkeit (ich bin schon mal drei Tage nach einer Operation nicht aufgewacht) lasse ich heute alles ohne Spritze machen, lieber das bischen Schmerz als den ganzen Tag wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Meine Zahnärztin findet mich sehr tapfer, als ich ihr aber einmal erzählte, dass ich bereits angstschweiße Hände bekäme, wenn ich nur ihre Praxis betrete, verstand sie nicht: „Wer sich ohne Narkose im Zahn bohren lässt, der muss doch keine Angst haben.“
Angst ist eben doch etwas nicht logisch zu erfassendes. Ich zeige ihr diese Story, vielleicht versteht sie mich dann.
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