Gestern sah ich zum ersten Mal bewusst unseren Nachbarn zur Rechten. Während ich mit Lucie mittels Kreide unsere Strasse verschönerte, trat er hinaus und machte sich an der Hauswand zu schaffen.
Ich weiß nicht s von ihm, er sieht aus als ob er im Katasteramt einen Haufen wichtiger Pläne verwaltet - aber sonst? Kenne ich seine Lieblingskäsesorte? Weiß ich, welche drei Platten er mitnähme auf eine einsame Insel? Nö. - Ich erinnerte mich an eine Nachbaren-Figur in T.C. Boyles Roman "Worlds End", die mit Genuss Kellerdreck verspeist, und hielt es für ratsam, ihn nicht aufzuschrecken. Aber ich entschied mich doch wieder anders, Ich ,musste mehr erfahren. So nahm das Schicksal seinen Lauf.
Und da ich annahm, dass er eine Außenleuchte montieren wollte, sprach ich: „Das muss ich auch noch machen, die liegt schon seit drei Wochen bei uns rum…“ "O, guten Abend!", sagte er, "haben Sie zufällig St. Antons Ohrläppchen gesehen?" - "Was?", sagte ich. "So groß ungefähr", sagte er. Er zeigte mit den Fingern die Größe eines Ohrläppchens, und ich schluckte. Was hatte dieser Mensch für eine bizarre Passion? Stahl er die Ohrläppchen von Heiligen aus Reliquienschreinen, "Quatsch!", dachte ich, "du liest zu viele Krimis!" Dann sagte ich "Nein, tut mir leid!" und folgte seiner Aufforderung einzutreten. "Es ist zum Verzweifeln", seufzte er. "Vielleicht ist es eine blöde Frage", redete ich drauflos, "aber was haben Sie mit dem Ohrläppchen eines Heiligen zu tun?" "O", sagte er, "kommen Sie, ich zeig es Ihnen!" Er fasste mich am Arm und schob mich in sein Wohnzimmer. Jäh brach mir der Schweiß aus. War ich denn wahnsinnig geworden? Jetzt konnte ich diesem gewiss bärenstarken Riesen nicht mehr entkommen, gleich würde er mich in sein Badezimmer schubsen, abmurksen, zerstückeln und dann im Verlauf der nächsten Monate mit dem Biomüll entsorgen! Ich taumelte, schwankte und … "Bitte!", rief er plötzlich. Wir standen in seinem Wohnzimmer. Nirgendwo waren Mordwerkzeuge oder chirurgische Sägen zu sehen. Dafür waren die Wände vollgehängt mit - Puzzles! Großen, zusammengeklebten Puzzles von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. Auf dem Tisch lag seine letzte Arbeit: Ein Puzzle von Dalís "Versuchung des heiligen Antonius", in dem noch genau ein Teil fehlte. "Sehen Sie?", sagte er. Ich fragte: "Aber wie soll das Teil vor ihre Haustür gelangt sein?" - "Was weiß ich", krächzte er, "manchmal legen die Dinge die seltsamsten Wege zurück. Fest steht, dass es vor ein paar Tagen noch da war und ich hier alles durchstöbert habe." - "Hm", machte ich, spähte hier unter die Teppichfransen und dort in einen Blumentopf, zuckte schließlich die Schultern, wünschte ihm noch viel Glück und ließ ihn allein zurück. Später, als ich schlafen gehen wollte, purzelte etwas aus meiner Hosentasche. Es war ein Puzzleteil, und ich lag noch lange wach und fragte mich, ob es tatsächlich durch einen haarsträubenden Zufall dorthin gelangt sein mochte oder doch eher der Nachbar dahintersteckte - ein harmlos scheinender Puzzlespieler, der nur darauf wartete, dass ich noch einmal bei ihm klingelte und er endlich seine nagelneue Chirurgensäge ausprobieren könnte.
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