… ich besuche Familie Windus-Dörr in ihrem neuen Heim im Lister Blick. Da das Navigationssystem meines Autos defekt ist und der „Atelierblick“ in meinem Stadtplan von 1979 noch nicht eingezeichnet ist, wandert mein Blick unruhig durch die Windschutzscheibe, an der Wegkreuzung steht ein verfallenes Jugendzentrum, "Todesstrafe für Kinderschänder" hat einer auf die halb herausgebrochene Tür gesprüht. Hinter dem Bauwagen links geht ein befestigter Weg in die Siedlung. Die Straßen heißen hier „Neue Sachlichkeit“ oder „Bauhausweg“, ich kurbele die Scheibe herunter, ein Hauch von akademischem Mittelbau weht mir entgegen. Auf der rechten Seite wehren die Gartenzäune von Atriumbungalows alle Blicke ab, links sitzen die Bewohner der zweistöckigen Reihenhäuser auf handgedrechselten Holzbänken vor ihren Häusern und beobachten mich misstrauisch über die Ränder ihrer getönten Brillen hinweg, Horden von Kindern hetzen ihre Bobbycars gröhlend durch die Vorgärten.
Die winkende Stechmückenwolke im Garten der Nummer 55 ist mein alter Freund Thorsten. Um ihn herum stehen die Reste umfangreicher Renovierungsarbeiten. "Ich habe mir das Knie ausgerenkt, weil ich die Schaukel aufgehängt habe ", sagt er gut gelaunt. Aus dem Haus kommen dumpfe, regelmäßige Patsch-Geräusche. "Bettina schlägt Fliegen tot", erläutert er. Der milde Winter und der feuchte Sommer haben dazu geführt, dass der nur einen Steinwurf entfernte Mittellandkanal Unmengen von Insektenlarven ausbrüten konnte.
Wir gehen zum nahe gelegenen Kanal und schleppen Decken, Taschen, Kinderspielzeug und Esspakete kilometerweit, um eine "besonders schöne Stelle" zu finden. Mein alter Freund schmeißt seine Familie jauchzend ins Wasser. Ihre Beinarbeit wirbelt den schlammigen Boden auf, faulige Blätter und verrottende Ästchen kleben an ihren Füßen. Ich bleibe draußen und vermische auf meiner Haut Autan mit Sonnenmilch zu einer klebrigen Emulsion. "Komm rein!", schreien sie. Aber ich war schon mal am Loch Ness und betrete keine Gewässer mit nicht sichtbaren Bodenfliesen.
Wir fahren zurück und bereiten einen Kartoffelsalat vor, denn am Abend kommen die Nachbarn aus dem „Camp“, wie die Siedlung Lister Blick liebevoll von seinen Bewohnern genannt wird. Um 19 Uhr bringt das tiefbraune Ehepaar von rechts einen kunstvoll geflochtenen Knoblauchzopf, um 19.15 Uhr kommen Alex und Alexa von gegenüber mit einem Trockenblumenstrauß und einer Flasche Dompfaff. Mein alter Freund Thorsten hat ein Mini-Bierfass gekauft, auf dem zwei dicke Männer sich zuprosten, ich führe diese ästhetische Verfehlung auf zu viele Mückenstiche im Gehirn zurück. Um 20 Uhr weht Grillanzünderduft durch die Gärten und eine Rauchwolke trübt den Lister Blick, fertig eingelegte Steaks von traurigen Schweinen brutzeln. Um 22 Uhr sind sämtliche Taschentücher mit meinem Heuschnupfen voll, und ich verabschiede mich. Hinter meinem Auto steht ein Merzedes-Geländewagen mit der Aufschrift "Leben und leben lassen" über dem Konterfei eines Fiat 500.
"Ist es nicht herrlich hier?", fragt mein alter Freund, der mich zum Wagen bringt, sein Knie ist angeschwollen. "Hmpf", sage ich. "Na ja, ich bin in so einer Siedlung großgeworden, und in eine Altbauwohnung in der Innenstadt geflüchtet.“ Müde lächelnd winkt mir Thorsten hinterher, ich gebe Gas und biege in die Podbielskistrasse stadteinwärts, eine Stadtbahn kommt quietschend um die Ecke, ein Binnenschiff mit Schrott tuckert den Kanal runter… und irgendwo kotzt ein Pferd alles voll.
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