Es war einer dieser Abende, an denen es mal wieder etwas später geworden war. Gegen 19:30 Uhr schaltete ich meinen Computer aus, nahm Hut und Mantel und löschte das Licht hinter mir. Auf dem Gang traf ich die Putzfrau, die mir einen schönen Feierabend wünschte. Noch ein kurzes Geplänkel mit dem Pförtner und dann hinaus in die Kälte: Regen, Nebel, Feuchtigkeit, die sich wie Brei auf die Lunge legt. Hannover im November eben.
Um diese Zeit kommen die Stadtbahnen der Linie 4 nur noch alle 15 Minuten, dafür sind sie nicht mehr so voll. Mein Lieblingsplatz hinter dem Fahrer war frei. In unseren Stadtbahnen kann man immer nur zur Seite herausschauen, sitzt man aber hinterm Fahrer, dann kann man auch geradeaus schauen. Aber nur von diesem Platz aus. Mir gegenüber sass ein Türke, der ein Gebetskettchen in der Hand drehte und leise monoton vor sich hin summte. Man kennt diese Situation aus syrischen Überlandbussen. Nichts Besonderes. - Station Stefansstift stiegen zwei Chinesinnen zu, die sich auf die gleiche Bank wie Ali (oder Mustafa) setzten und sofort mit einem lautstarken Geschnatter anhoben. Chinesisch wirkt in solchen Gesprächen sehr hart und sehr laut, stellte ich fest. Ali deklamierte seine Gebete ein paar Phon lauter. Am Kantplatz stieg dann endlich der Höhepunkt des Abends ein: Schottenrock, rote Wollkniestrümpfe zu zerfledderten Turnschuhen, kariertes Hemd, roter Vollbart, der lange keinen Kamm mehr gesehen hatte, auf dem Kopf - ohne Witz - ein Dreizack. Das mußte Lord Nelson sein. Er setzte sich neben die Chinesinnen, die ihn zunächst gar nicht zu beachten schienen. Lord Nelson schaute eine Weile Stadtbahn TV, bis er gelangweilt zu deklamieren begann:
"Der Mohr hat Chlor im Ohr."
"Herr Ober, dieser Dorsch ist morsch."
"Auf Fichten sitzen Nichten."
Die Chinesinnen unterbrachen kurz ihr Geschnatter und blickten den Schotten an. Zweifelsohne hörten sie die klanglichen Alliterationen, verstanden aber die Bedeutung nicht. Lord Nelson hub wieder an:
"Auf dem schönen Taiger See
Kocht der brave Segler Tee
Beim Mahle sprach der Schiffsmann laut... "
Aha, er konnte also auch richtig dichten, wenn auch zunächst im schlichten Paarreim und Hexameter.
"... Ich bitte, dass man leiser kaut!"
Macht sogar Sinn.
"Blitze zuckten
Donner grollten
Und durch das dunkle Dickicht rollten..."
Oh, jetzt übt er sich in Enjambements (Zeilensprünge)
"zwei Igeltiere
Rolf und Reiner.
Doch gesehen hat sie keiner."
Die beiden Chinesinnen waren schon merklich leiser geworden, während Mohammed etwas lauter mit seiner Gebetskette rasselte. Da hob Lord Nelson ausgiebig seinen Rock zum Lüften, was den Chinesinnen nicht gefiel. War wohl nicht so erhebend, was da hervorkam, jedenfalls standen beide auf und flüchteten einen Waggon weiter. Lord Nelson schickte ihnen noch ein Haikku hinterher:
"Morgens wenn Sybille scheißt...
Trinke ich Holundergeist."
Eine gewisse Kreativität konnte man ihm nicht absprechen, doch jetzt der Höhepunkt seines dichterischen Schaffens:
"Er litt sehr unter Samendrang...
Und jetzt war ich echt gespannt, was sich auf Samendrang reimen würde...
"... Immer wenn er Wagners Dramen sang".
Ich stieg aus mit den Worten: "Der Dichter, der Dichter, der kriegt was auf die Lichter..."
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