Ein Studienkollege von mir, ich glaube er hieß Stange, sagte einmal, man bräuchte nichts mehr zu schreiben, es sei schon alles geschrieben, man könne nur noch intertextuell schreiben, auf bereits Bestehendes verweisen. Ich ging in der Diskussion damals noch ein Stück weiter: Wir müssen gar nicht mehr leben, alles was das Leben zu bieten hat, das bietet es schon in gedruckter Form.
Als Säugling lag ich auf dem Bett meiner Eltern. Darüber war ein Brett angeschraubt, Bücherbord nannte man dasselbe. Davon fiel Prof. Dr. Hubbard Jollys „Das gesunde Kind“, Verlag Ehrenwerth, 1955, 551 Seiten, gebunden mit Leinenlesebändchen. Eine tiefe Delle sei in meinem Schädel gewesen, berichtet meine Mutter. Erst der Kinderarzt nahm meinen Eltern die Panik: Baby haben weiche Knochen, kein Grund zur Besorgnis.
Nein, liebe Andrea, diese Geschichte ist erfunden. Aber wie sagte mein alter Doktorvater Professor Peters (und wahrscheinlich sagt er es immer noch). „Es ist nicht wichtig, ob eine Geschichte wahr ist oder erfunden. Hauptsache sie ist gut.“
Was will ich sagen mit meiner Geschichte? - Klar, es gibt kaum etwas Gefährlicheres als das gedruckte Wort. Aus der richtigen Fallhöhe hätte es mich erschlagen können. Hitler brauchte seine Stimme, seine Gesten, den Volksempfänger und „mein Kampf“, um den Hass in deutsche Wohnstuben zu bringen. Goethes „Werther“ trieb hunderte von jungen Menschen in den Freitod. Und die Schlagzeilen der Bild stürzen türkischdeutsche Leitbildpolitiker und arbeitsmüde altsozialistische Intellektuelle mit hohem Unterhaltungswert.
Klar, am Anfang war das Wort, aber es reichte nicht aus. Deshalb erfand die Kirche auch Weihrauch, die Orgel, das Fegefeuer, das Zölibat und den Barock, um ihre Schäfchen beisammen zu treiben.
Aber: Zuviel vom gedruckten Wort macht lebensuntüchtig. Meine Gymnasiumzeit in Hannover versaute ich mit zuviel Karl May. 1973 lud meine Mutter zum ersten Familienurlaub nach Spanien. Ich war nicht wirklich da, ich war auf dem Weg vom Auenland nach Mordor. Ich las den Herrn der Ringe. Ich verpasste einiges am Leben, Sonnenbrand zum Beispiel. Ich verpaßte den Jahrhundertsommer 1981, es war mein erstes Studienjahr und ich las 5400 Seiten Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ich soll mich damals angeblich am Telefon mit „Hallo hier Proust“ gemeldet haben. Andrea, ich schwöre, ich weiß heute nicht mehr, ob dies wirklich den Tatsachen entspricht.
An 1985 habe ich keine Erinnerungen mehr, damals konsumierte ich das Gesamtwerk von Raymond Chandler, der amerikanische Kriminalroman war das Thema meiner Zwischenprüfung. Und die Fußball-WM 1992 fiel Stefan Heyms „Bitteren Lorbeer“ zum Opfer.
Seit Ende meines Studiums habe ich das mit der Lektüre nun endlich im Griff. Sie raubt mir keine Lebenszeit mehr. Alle Klassiker sind gelesen, Der Mann ohne Eigenschaften und Anna Karenina stehen im Regal, ich hebe sie auf für die Rente. Lektüre ist heute nicht mehr Zweck. Lesen ist heute das bessere, weil konsequenzlose Leben. Deshalb gönne ich mir auch Irving, Kathy Reich und den Herrn der Ringe als Vorbereitung auf den Kionofilm. Früher war es mein Traum, die ganze Existenz als Leser zu verbringen. Heute verschönere ich meine Existenz durch Lesen.
Diese Geschichte habe ich auch schon mal gehört, von daher nehme ich mal wieder an, dass sie irgendwo bei Pynchon steht (wie die mit den Krokodilen in den New Yorker Abwasserkanälen).
Ach übrigens Webb: sorry, dass ich nie geantworetet habe. gegen Karl May gibt es nichts zu sagen, er ist ein sehr guter Trivialerzähler.
Kommentiert von: wth40plus | Mittwoch, 21. März 2007 um 11:32 Uhr
Ich habe mal von einem Literaturprofessor gehört, der im Anblick seines Bücherregals wahnsinnig geworden ist, weil er keine Chance sah all das zu lesen, was er zu lesen müssen meinte (oje, stimmt das jetzt?)
Kommentiert von: Dirk Pitt | Mittwoch, 21. März 2007 um 09:36 Uhr
Was kann man denn gegen Karl May haben?
Kommentiert von: webb traverse | Freitag, 16. Februar 2007 um 13:46 Uhr