Wütend warf die Kellnerin uns aus den "Härkestuben" in Bad Harzburg. Draußen vor dem Lokal stießen wir mit den halbvollen Bierkrügen an, die wir ihr nicht hatten zurückgeben wollen. Und wohin jetzt? Keine Ahnung. Wir taperten hinaus in die neblige Nacht.
Aus dem Nebel tauchte die Ruine des Vier-Jahreszeiten-Hotels am Hang auf. Unscheinbar ragte daneben der weiß getünchte Backsteinbau zwischen den Bäumen im Hotelpark hervor. Seit mindestens einem Jahr war das Hotel Investitionsruine, das Häuschen daneben muß so eine Art Hausmeisterwohnung gewesen sein.
"Wir müssen da rein!", meinte mein Freund Andreas und Edwin und ich nickten bloß. Langsam umrundeten wir das gedrungene Backsteinhaus, das uns aus seinen vergitterten Fenstern misstrauisch beäugte, wie es wahrscheinlich seit Jahrhunderten alle Eroberer, die in die Stadt eingefallen waren, abschätzig gemustert hatte.
Ich war das Genie des Coups: "Durchs Dach kommen wir rein!" Edwin war nicht nur der Gelenkigste von uns dreien, sondern auch der Dümmste, und gerade deshalb zog ihn wohl auch jede Dummheit an. Später wurde er Förster in Hodenhagen. Jetzt ließ er uns eine Räuberleiter bilden und kraxelte aufs Dach. Tatsächlich war eines der Dachfenster offen.
Von innen zog Edwin an einem der Fenstergitter aus Eisen, das kurz darauf mit einem quietschenden Seufzer nachgab. Er hatte wahrhaftig das Gitter aus der Wand gehoben. Das Gitter konnte man nach dem Einsteigen wieder einsetzen und alles sah so aus, als ob nie etwas gewesen sei.
Munition oder gar Sprengstoff wurde hier nicht mehr gelagert. Stattdessen lag überall Gerümpel verstreut. Das einzig wertvolle Stück war ein Schallplattenspieler, ein gewaltiges und veraltetes Gerät mit zwei klobigen Lautsprecherboxen. Erst jetzt wurde uns bewusst, das wir bei der genialen Planung unseres Coups nicht bedacht hatten, wozu das Ganze eigentlich gut war, da fanden wir ein Telefon, von dem man tatsächlich noch telefonieren konnte! !!
In der Folge telefonierten wir abends vom Pförtnberhäuschen in die Welt, besonders Andreas nutzte dies schwerlich aus, hatte er doch Verwandte in Italien. Ansonsten war das Häuschen natürlich ein beliebter Platz um in Ruhe und Wärme die ein oder andere Zweiliterflasche Frascati zu leeren. Dummerweise verrieten wir auch Avug (Alexander von, es folgt der Name eines mäßig bekannten deutschen Adelsgeschlechtes) von unserem Refugium, was dazu führte, dass er die ein oder andere Maid dorthin entführte und wahrscheionlich auf dem weichen Teppichboden beglückte. Dabei muß es auch passiert sein.
Wären da nicht die Ordnungshüter gewesen. Eines Tags war das Fenstergitter repariert und das Pförtnerhäuschen versiegelt. Ich bekam einen Brief, der mir eine schlaflose Nacht bescheren sollte: "Morgen früh um zehn auf dem Präsidium!", ordnete ein Beamter mein Erscheinen an. Ich wälzte mich im Bett hin und her, gequält von der Frage, ob ich besser nach Berlin oder nach Amsterdam flüchten sollte.
Ich wurde in einen Verhörraum geführt und musste warten, allein, lange, bange Minuten. Der alte Trick, um Schwerstkriminelle wie mich mürbe zu machen. Der Kommissar war ein knorriger alter Hase. In fünf Minuten würde er mich zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht haben. Wo ich denn am Mittwochabend gewesen sei, begann er gelangweilt das Verhör. "In der Stadt und dann im Internat", antwortete ich knapp. Warum ich denn so zittern würde, verschärfte der Bulle plötzlich die Gangart, und erst jetzt bemerkte ich, dass ich tatsächlich am ganzen Körper zitterte. Eingeschüchtert antwortete ich: "Ja, wer würde denn nicht zittern, wenn er zur Polizei vorgeladen wird?" Das herbe Gesicht des Cops zeigte ein deutliches Gefühl der Genugtuung. Dann holte er ohne Warnung zu einem härteren Schlag aus und knallte ein silberfarbenes Etui auf den Tisch: "Und was ist das?", schnauzte er mich an. Ich wusste sofort, was los war Avugs Adressbüchlein lag dort und da stand ich drin. Der Idiot musste es bei einem seiner Schäferstündchen im Pförtnerhäuschen verloren haben.
Mir drehte sich alles. Wie peinlich! Dann aber muss so etwas wie ein Ruck durch mich gegangen sein, denn ich legte los und log die Engel vom Himmel herab. Im Brustton tiefster Überzeugung erzählte ich dem Kommissar eine hanebüchene Geschichte von einer fiktiven Schallplattentauschbörse, den ich aufgezogen hatte, weswegen ich wohl in diesem Adressbuch stehen würde. Warum auch immer, die Geschichte zog. Ich wand meinen Hals aus der Schlinge. Der Kommissar stand auf und bedankte sich auch noch bei mir für mein Verständnis. Ich durfte gehen.
Einige von uns, die in Avugs Adressbüchlein gestanden hatten, mussten zur Befragung, die Sache mit der Schallplattentauschbörse zog. Avug wurde nie behelligt, sein Name tauchte natürlich in seinem eigenen Adressbüchlein nicht auf. Er musste uns einen ausgeben und von nun an wieder auf der Parkbank vögeln. Ich habe nie wieder etwas über den Fall gehört, was wohl aus der immensen Telefonrechnung geworden ist? Heute ist dort wieder ein florierendes Luxushotel, das Pförtnerhäuschen wurde abgerissen. Herr Richter, geben Sie mir bitte zehn Jahre wegen Dummheit, ach, wir wollen ja nicht kleinlich sein, nochmal zehn für Peinlichkeit obendrauf.
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