Aus gegebenenem Anlass schlafe ich zur Zeit wieder mal schlecht. So auch gestern Nacht. Nachdem ich mich eine Weile im Bett gewälzt hatte, nahm ich meine Lektüre und ging ein Stockwerk höher. Da sass er an Bettinas Schreibtisch und blätterte in einem unserer Aktenordner: eine hagere, alterslose Gestalt im schwarzen Mantel, eher ein Schädel als ein Kopf, Kälte und Modergeruch verströmend, eine Sanduhr in der linken Hand und - tatsächlich! - eine lange Sense in der Rechten. Nein, es war nicht der Tod, es war sein kleiner Bruder, der Mainstream: Die Mitte der Gesellschaft, der Durchschnitt, Otto Normalzuschauer. Das Gegenteil von Freiheit, Abenteuer, Überraschung, Kreativität. Das Ende des wirklichen Lebens also.
Der Mainstream grinste mich mit seinen weißen Zähnen an und deutete mit seinem knochigen Finger in die Akten: „Was haben wir denn da, mein Lieber, den Kaufvertrag für ein Einfamilienhaus. Sind wir jetzt richtig etabliert und angepasst geworden.? Hattest du nicht jahrzehntelang gegen Eigentum gewettert und deine Freunde geschmäht, die sich eine, ich zitiere:“Einfamiliengruft am Stadtrand“ kauften?“
Ich wurde blaß. Der Mainstream war schon zweimal bei mir gewesen und wollte mich holen. Beide Male konnte ich ihn geschickt davon überzeugen, dass ich denn doch noch nicht zum Mainstream gehöre. Wie sollte ich das jetzt schaffen?
„Naja, weißt du, man wird älter, man muß an die Altersversorgung denken. Und die Wohnung hier, das Treppensteigen…“
„Papperlapapp, früher hast du immer gesagt, du würdest dein Leben zur Miete wohnen und im Alter dein Geld lieber für Weltreisen, Weiber und Wein ausgeben.“
Verflixt, woher wusste der Kerl alles, was ich früher mal gesagt hatte, machen die in der Hölle etwa Bandaufnahmen. Lebt der Mainstream überhaupt in der Hölle?
„Naja, das mit den Weibern geht ja nicht mehr, ich bin verheiratet.“
„Ich weiß, zum zweiten Mal, hast nix gelernt. Hast Pech gehabt, deine erste Frau ist dir weggelaufen, die Zweite ist geblieben.“ Er zeigte mir grinsend seine kahle Zahnreihe.
„Und dann hast du es ja richtig spießig gemacht: Reihenhaus im Lister Blick, da wo alle im Moment in Hannover hinwollen. Lass mich raten: Vollholzküche, Dachterrasse, Carport, Gartenhäuschen?“
Mir wurde schlecht, er hatte Recht.
„Das reicht mir als Antwort“, er verschwand zur Hälfte durch die Wand.
„W-w-wie? Nimmst du mich nicht mit, stammelte ich?“
„Oh nein, mein Lieber, das werde ich jetzt noch auskosten, deinen weiteren Niedergang. Denk immer dran, wenn du einen kalten Hauch im Nacken spürst, dann stehe ich hinter dir. Wenn du dein erstes Gartenbarbecue gibst, wenn du dich auf der ersten Eigentümerversammlung zum Blockwart wählen lässt, wenn es den ersten Stress gibt, weil die unbefriedigte Nachbarin dir schöne Augen macht. Wir sehen uns…“
Bei uns ist es einfach nicht okay, "normal" zu sein. Das hat dann immer gleich den Ruch des Mittelmaßes. Jeder will etwas Besonderes, Individuelles sein.
Kommentiert von: wth40plus | Dienstag, 27. März 2007 um 09:16 Uhr
In USA wird der Mainstream übrigens nicht so kritisch gesehen, wie hier in Deutschland. Dort gibt es den Satz "mainstream is just alright".
Kommentiert von: Dirk Pitt | Montag, 26. März 2007 um 15:54 Uhr